Oder: Was soll das bedeuten?
Take, make and waste – System der Endlichkeit. Wir leben in einer Zeit schneller Veränderungen. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht das Abbröckeln vertrauter Sicherheiten erleben und Dinge, die wir bislang für unmöglich gehalten haben, als neue Realität akzeptieren müssen: Ganze Gesellschaften werden wegen eines Virus in den Lockdown geschickt, unsere jahrzehntelang so sicher geglaubte demokratische Grundordnung erscheint von Jahr zu Jahr weniger selbstverständlich. Die Coronakrise und die Flutkatastrophe des Sommers 2021 haben deutlich gemacht, dass sich alles schlagartig ändern kann.
Aber war und ist dies alles wirklich so überraschend? Oder haben wir nicht in Wahrheit die zugrunde liegenden Ursachen schlichtweg übersehen, die Vorzeichen negiert?
Schon seit Langem gibt es dringende Probleme in unserer globalisierten Gesellschaft, die wir systematisch ausblenden. Solange die Konsequenzen uns nicht direkt betreffen, erlauben wir es uns, sie zu vernachlässigen. Warnungen von Wissenschaftlern über den Klimawandel, Migrationsströme oder das Auseinanderfallen unserer Gesellschaft gibt es schon seit Jahrzehnten. Doch erst wenn die Probleme so drastisch und aktuell werden, dass sie unseren Alltag erreichen, sind wir zum Handeln bereit. Aber dann ist es für eine adäquate Antwort meist zu spät. In Holland sagt man in einem solchen Fall: Die Kaimauer wendet das Schiff.
Das gilt vor allem für die ökologische Krise, die sich schon seit einem halben Jahrhundert ankündigt und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt – und inzwischen von Jahr zu Jahr – immer dringlicher wird. Bisher erreichte sie uns meist nur über einen Bildschirm als Nachricht über Wirbelstürme, Waldbrände oder Überschwemmungen in für uns weit entfernt gelegenen Teilen der Erde, um dann sehr schnell wieder im Trubel und in der Kurzatmigkeit unserer medialen Welt unterzugehen. Der Sommer 2021 hat deutlich gemacht, dass die durch den Klimawandel bedingten Naturkatastrophen nicht vor unseren Haustüren haltmachen werden.
Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
[Victor Hugo]
Inzwischen ist es offensichtlich: Die großen globalen Herausforderungen hängen mit unserem Wirtschaftssystem zusammen, das angeblich komplex, aber in Wahrheit unglaublich simpel organisiert ist, nämlich linear. Wir kennen immer nur eine Richtung: Rohstoffe gewinnen, gebrauchen und schließlich wegwerfen – take, make and waste. Es ist dieses Prinzip, das nicht nur zu einer gigantischen Verschwendung von Rohstoffen, sondern auch zu Klimawandel und einer zunehmenden Zerstörung von Ökosystemen führt.
Unser Wirtschaftssystem ist ausgerichtet auf kontinuierliches Wachstum. Unser Wohlstand hängt davon ab, dass Produkte in stets größeren Mengen konsumiert werden. Deshalb wird die Lebensdauer von Produkten mittlerweile künstlich verkürzt. Unser Smartphone ist nach einem Jahr schon nicht mehr up to date, ein Drucker gibt nach einer festgelegten Anzahl von Kopien den Geist auf, und mit den Schuhen der letzten Saison macht man sich dieses Jahr lächerlich. Durch immer schneller wechselnde Modetrends werden Konsumenten gezwungen, sich jede Saison etwas Neues anzuschaffen. Das gilt nicht nur für Kleider, die mit der Mode kommen und gehen, Stichwort „Fast Fashion“.
Das gilt inzwischen auch für einst generationenüberdauernde Güter wie Möbel oder Geräte. Ob Kühlschrank oder Kleiderschrank – alles muss nicht nur funktional, sondern auch „trendy“ oder „up to date“ sein. Technisch haben sich Thermoskanne, Toaster und Kaffeemaschine seit Jahrzehnten nicht wirklich fortentwickelt, trotzdem werden Jahr für Jahr alte Geräte durch neue ersetzt. Nicht nur weil sie kaputt oder dysfunktional wären, sondern weil sie nicht mehr gefallen. Und immer öfter und immer schneller veralten Produkte durch „Innovationen“, die gar keine sind.
Vor allem in der IT-Welt zwingen datenmäßig aufgeblasene Software- Updates die Verbraucher irgendwann dazu, ein neues Gerät zu kaufen, obgleich das alte noch wunderbar seinen Dienst tut. Und wie viele Geräte landen im Müll, einfach weil ein winziges Ersatzteil fehlt – oder eine Reparatur schlichtweg nicht möglich ist, weil die Produkte absichtlich so konstruiert wurden, dass sie nicht zu reparieren sind?!
Das gilt auch für das Wirtschaftssystem selbst. Wir können es nicht durch geringfügige Verbesserungen „reparieren“. Wir müssen es austauschen. Es ist notwendig, das Wirtschaftssystem grundlegend anders zu organisieren. Die Erde ist ein geschlossenes System. Unser Verbleib hier ist zeitlich begrenzt. Anstatt ein System zu nutzen, das das Fortbestehen von uns selbst und vieler anderer Wesen auf diesem Planeten in Gefahr bringt, müssen wir umdenken.
Das wichtigste Ziel der Ökonomie muss dabei sein, die Wertschöpfung vom steigenden Verbrauch an Rohstoffen zu entkoppeln. Dafür sollten wir uns drei Erkenntnissen nicht länger entziehen:
ERKENNTNIS 1
Eigentum bedeutet Verantwortung
Wer heute etwas kauft, übernimmt ungefragt eine Verantwortung, die er oder sie gar nicht tragen kann. Wir erwerben – ohne es zu wollen und meist, ohne es zu merken – nicht nur das, was wir zu kaufen glauben, sondern auch allerlei Dinge, die wir gar nicht wahrnehmen.
Wenn beispielsweise der Laptop, auf dem dieses Buch geschrieben wird, eines Tages nicht mehr funktioniert, dann haben wir nur eine Möglichkeit: Wir tragen ihn zu einem Wertstoffhof, wo wir hoffen müssen, dass das Gerät richtig „entsorgt“ wird. Aber schon in diesem Wort liegt das Problem! Das Gerät ist voller wertvoller Materialien [1], für deren Erhalt wir sorgen müssten. Wir selbst aber sind mit einem verantwortungsvollen Umgang vollständig überfordert. Als individuelle Nutzer können wir nicht Sorge tragen für alle Materialien, die in diesem Laptop verarbeitet sind. Wir können schon gar nicht für ihre Wiederverwendung sorgen. Ja, schlimmer noch: Wir wissen meist noch nicht einmal, welche Rohstoffe oder Materialien sich in dem Laptop befinden, geschweige denn, was ihre Eigenschaften sind. Dafür sind wir außerstande, langfristig die Verantwortung zu übernehmen.
Selbst wenn wir ahnen, dass manches im Innern der Geräte versteckt ist, das nicht kompostierbar ist. Selbst wenn wir auch ahnen, dass manches darin für die Verbrennung auf der Mülldeponie viel zu schade ist. Selbst wenn wir obendrein ahnen, dass manches hochgiftig oder für die Flora und Fauna, für die Menschheit oder das Klima gefährlich ist, sobald es in Kontakt mit ihr kommt. Eigentum verpflichtet, steht im deutschen Grundgesetz. Aber wir kommen dieser Pflicht nicht nach, weil wir es nicht können. Wir ahnen das. Wir wissen das. Aber wir wollen es nicht wahrhaben. Weil wir überfordert sind.
Diesem Dilemma könnten wir durch einen Systemwechsel entkommen. Ein System, in dem Produzenten verantwortlich für ihre Produkte bleiben, verbindet etwas, das im Sinne des Planeten verbunden gehört: die Macht zur Gestaltung des Produktes zum einen und die Verantwortung für das Material zum anderen. Die Hersteller eines Produkts wissen sehr genau, welche Rohstoffe sie dafür verwenden. Wenn sie die Verantwortung für den weiteren Lebensweg der Rohstoffe nicht durch den Verkauf an ihre Kunden wegdelegieren könnten, sondern dafür verantwortlich blieben – dann würden und müssten sie sich überlegen, wie sie mit ihrer Verantwortung umgehen können. Es würde quasi von selbst ein Wirtschaftsmodell entstehen, in dem wertvolle Materialien nicht länger als Abfall verloren gehen, sondern in kontinuierlichen Kreisläufen zirkulieren.
Eigentum verpflichtet, steht im deutschen Grundgesetz. Aber wir kommen dieser Pflicht nicht nach, weil wir es nicht können.
Ein solches System würde automatisch zu einem anderen Umgang mit Eigentum führen – nämlich insofern, als wir nicht Eigentümer eines Gegenstands werden, sondern nur das Gebrauchsrecht dafür erwerben. Vereinfacht gesagt: nutzen statt kaufen. Für ein solches System brauchen wir demnach nicht nur anderes Produktdesign und andere Produktionswege, sondern ganz neue Geschäftsmodelle.
ERKENNTNIS 2
Wir besitzen alle Dinge nur auf Zeit
Wir sollten uns nachdrücklich bewusst machen, dass wir die meisten Produkte und auch alle damit verbundenen Rohstoffe lediglich für sehr kurze Zeit gebrauchen. Das gilt – von einer größeren Perspektive aus gesehen – selbstverständlich auch für Produzenten, die genau wie jeder einzelne Konsument mit der Verantwortung für das Eigentum – langfristig – überfordert sind. Aus Erdöl wird Schaumstoff, aus Schaumstoff ein Sitz, aus dem Sitz ein Wagen, aus dem Wagen ein Zug und aus dem Zug ein Verkehrsnetz. Ständig wechseln die Eigentümer. Die Frage liegt auf der Hand: An welche Stelle gehört das Eigentumsrecht auf Material? Durch die ganze Produktionskette hindurch, von der Mine bis zum Endverbraucher – wo kann das Eigentumsrecht am besten mit Verantwortungspflicht kombiniert werden?
Und noch eine Frage liegt auf der Hand: Wo halten wir fest, welche Rohstoffe in einem Produkt enthalten sind? Für die konsequente Registrierung von Material brauchen wir eine Art „Materialpass“. Rohstoffe werden als wertvolle Identität erfasst. Denn das, was wir gemeinhin als „Abfall“ bezeichnen, ist de facto nichts anderes als eine Ansammlung von „Rohstoffen ohne Identitätsbeweis“.
Der heutigen Wert-Schöpfungskette, die im gegenwärtigen System de facto eine Wert-Vernichtungskette ist, wird damit eine Wert-Erhaltungskette hinzugefügt, was zu einer fundamentalen Veränderung des gesamten Systems führt. Wer diesen Gedanken konsequent weiterdenkt, kommt bald zum Kern unseres „Turntoo“- Modells: Nicht nur Produkte, sondern auch alle Materialien sind ein Service, eine Dienstleistung, die wir uns wechselseitig zur Verfügung stellen.
ERKENNTNIS 3
Der Kopf ist rund, die Erde eine Kugel und die Wirtschaft ein Kreis Voraussetzung, um die Wirtschaft zu verändern, ist die Erkenntnis, dass das Wirtschaftssystem ein Spiegel unseres Bewusstseins und des diesem zugrunde liegenden Weltbildes ist. Obwohl wir seit dem 16. Jahrhundert wissen, dass sich die Erde um die Sonne dreht und dass unser Planet einer von vielen im unendlichen Weltall ist, verhalten wir uns immer noch so, als ob wir das Zentrum des Universums wären: Alles wird unseren menschlichen Bedürfnissen untergeordnet. Dieses anthropozentrische Weltbild ist der kulturelle Nährboden für das hier beschriebene lineare Wirtschaftssystem, in dem die Natur lediglich ein Produktionsfaktor geworden ist und das uns die heutigen Krisen beschert. Um dies zu verändern, ist es nicht nur wichtig, die Spielregeln des Wirtschaftssystems zu verändern, sondern auch die Seele unserer Wirtschaft und Gesellschaft.
Und damit erklärt sich auch der Titel MATERIAL MATTERS, der eine dreifache Bedeutung hat: Da gibt es zum einen den Satz „Material matters“. Zu Deutsch: Material spielt eine Rolle. Material ist wichtig. Dann gibt es die Paarung „material Matters“, also: Materialfragen. Doch dieselbe Paarung bedeutet auch: „schwerwiegende Angelegenheiten“. Dieser dritte Punkt ist zugleich der wichtigste: Mit dem Thema Material sind eine Reihe von essenziellen Fragen verbunden, denen wir nicht länger aus dem Weg gehen können, das englische Wort „material“ bedeutet in diesem Zusammenhang „existenziell“. Wir müssen lernen, uns als vorübergehende Erscheinungen auf dem Planeten Erde zu begreifen, die bewusst und verantwortungsvoll mit allem umgehen, was unser Sein hier ermöglicht. Wir sind auf der Erde schließlich nur zu Gast.
ÜBER DIE AUTOREN
Sabine Rau-Oberhuber ist Ökonomin und hat zusammen mit Thomas Rau Turntoo gegründet, eines der ersten Unternehmen weltweit, das sich auf den Übergang zur Kreislaufwirtschaft konzentriert. Gemeinsam mit ihrem Team von Turntoo unterstützt sie Unternehmen und Institutionen bei der Entwicklung und Umsetzung zirkulärer Strategien und Geschäftsmodelle und engagiert sich international für eine breite Einführung der Kreislaufwirtschaft durch Vorträge und Publikationen, der Entwicklung von Standards und als Gastdozentin bei Universitäten.
Thomas Rau ist Architekt, Unternehmer, Innovator und anerkannter Vordenker für Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft. Thomas Rau wurde zum niederländischen Architekten des Jahres 2013 gewählt und mit dem ARC13 Oeuvre Award für seinen umfassenden Beitrag zur Förderung und Verwirklichung von nachhaltiger Architektur und Kreislaufwirtschaft ausgezeichnet. Er ist Mitbegründer des „Madaster“, das Online-Kataster für Materialien. „Madaster“ wurde mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2024 (Kategorie Bauindustrie) ausgezeichnet. 2022 bekam Rau den ULI Germany Leadership Award für Urban Innovation. Thomas Rau engagiert sich öffentlich für Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit durch international gehaltene Vorträge, TV-Dokumentationen, TED Talks sowie Veröffentlichungen.
Der Materialpass oder: Müll ist Material ohne Identität
Aus unserer Überzeugung heraus, dass in ähnlicher Weise wie die begrenzte Oberfläche der Erde in Grundbüchern kartiert wird – die begrenzten Materialvorkommen unseres Planeten in einem Materialregister erfasst werden sollten, erschufen wir 2017 „Madaster“, ein Kataster für Materialien. Diese digitale Online- Plattform generiert und speichert sogenannte Materialpässe für Gebäude und besteht inzwischen bereits für acht Länder. Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben wir unser Konzept weiterentwickelt und erkannt, dass die Kreislaufwirtschaft schon ein wichtiger Schritt ist, dass aber für eine grundlegende, vollständige Transformation des bestehenden Systems weitere Schritte nötig sein werden. Material Matters liefert eine neue Perspektive für diesen Wandel.
Material Matters, ISBN 9783430210751
Bestellen: materialmatters.store
FUSSNOTE [ 1 ] Im Umgang mit den Begriffen „Material“ und „Rohstoff“ folgen wir der Definition des deutschen Umweltbundesamtes: Material ist: ein Sammelbegriff für Stoffe und Stoffgemische. Stoff oder Stoffgemisch, der oder das für die Herstellung von Produkten bestimmt ist. Dies umfasst sowohl Rohstoffe als auch höher verarbeitete Stoffe und Stoffgemische. Rohstoff ist: ein Stoff oder Stoffgemisch in unbearbeitetem oder gering bearbeitetem Zustand, der oder das in einen Produktionsprozess eingehen kann. Wir verwenden daher den Begriff „Rohstoff“, wenn wir über noch unbearbeitetes, noch zu gewinnendes Material sprechen, zum Beispiel im Bergbau. Wenn wir über den Erhalt von Stoffen sprechen, verwenden wir den Begriff „Material“, da dies bereits einer Bearbeitung unterzogen wurde.