Nach Starkregenlage 2021: Neues Strategiepapier der Feuerwehren zum Katastrophenschutz in Nordrhein-Westfalen
Das Starkregenereignis im Juli 2021 hat die Katastrophenschutz-Strukturen in mehreren Bundesländern so stark gefordert wie kaum ein anderes Ereignis in den vergangenen Jahren.
Auch das Land Nordrhein-Westfalen war von dieser Lage stark betroffen. Allein in Nordrhein-Westfalen kamen in dieser Unwetterlage 49 Menschen ums Leben, davon fünf Feuerwehrangehörige – drei im Einsatz, ein weiterer im Rahmen einer zivilen Menschenrettung und einer in seinem eigenen privaten Keller.
Erstmals seit Schaffung von Einheiten der vorgeplanten überörtlichen Hilfe waren diese sogenannten Bereitschaften so stark in das Einsatzgeschehen eingebunden, dass landesweit keine vorgeplanten Bereitschaftsreserven mehr verfügbar waren. Eine so starke Bindung dieser überörtlichen Kräfte hatten zuvor auch die erfahrensten Einsatzkräfte nicht erlebt.
Entsprechend groß waren die Einsatzerfahrungen und Erkenntnisse durch diese ungewöhnliche Einsatzlage. Daher haben der Verband der Feuerwehren in NRW (VdF NRW), die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren in NRW (AGBF NRW) und die Arbeitsgemeinschaft der Leiter hauptamtlicher Feuerwachen in NRW (AGHF NRW) eine komprimierte Zusammenfassung erkannter Handlungsbedarfe im Katastrophenschutz erarbeitet und schon zu Beginn des vierten Quartals 2021 unter dem Titel Katastrophenschutz in Nordrhein-Westfalen – Vorschläge für eine Weiterentwicklung veröffentlicht. In dieses Aufgabenheft sind zahlreiche Erfahrungen eingeflossen, die insbesondere während der Hochwasserlage 2021 gewonnen wurden. Ebenso sind bekannte Hinweise auf notwendige Weiterentwicklungen enthalten, die zwar nicht neu sind, sich jedoch in der Starkregenlage 2021 vollumfänglich bestätigt haben.
Mehr Engagement des Landes erforderlich
Insbesondere hinsichtlich der Koordinierung von Katastrophenlagen auf Landesebene und der Zuarbeit des Landes zu den Kreisen und kreisfreien Städten als Unteren Katastrophenschutzbehörden ist deutlicher Verbesserungsbedarf gegeben. So wird unter anderem eine Kompetenz-Zentrale Katastrophenschutz auf Landesebene vorgeschlagen. Diese soll, so der Vorschlag, insbesondere relevante Informationen von europäischen und Bundesbehörden sowie aus verschiedenen Ressorts und Ämtern des Landes filtern und in für die Unteren Katastrophenschutzbehörden geeigneter Weise aufbereiten. Damit könnte die Informations- und Entscheidungslage für die kommunale Ebene deutlich verbessert werden und die Leitstellen, in ihrer Funktion als Meldeköpfe, werden in die Lage versetzt, bereits fachlich vorbewertete Information weiterleiten zu können. Gleichzeitig würde durch eine solche Bündelung beim Land sichergestellt, dass das dort tätige Personal umfangreiche Erfahrungswerte erwerben und in die Bewertung der Informationen einfließen lassen kann. So heißt es in dem Strategiepapier unter anderem: „Die durch Landes- und Bundesbehörden sowie auf europäischer Ebene verfügbaren katastrophenschutzrelevanten Informationen bedürfen einer ressortunabhängigen Vernetzung und einer für die Einsatzleitungen aller Ebenen geeigneten Bewertung, z. B. meteorologische, hydrologische oder geologische Daten.“
Darüber hinaus ist eine Stärkung der Koordinierungsfunktionen im Katastrophenschutz durch das Land erforderlich. Bei sich über mehrere Gebietskörperschaften erstreckenden Schadenslagen ist eine Aktivierung des Krisenstabes der Landesregierung unverzichtbar. Die Geschäftsordnung des Krisenstabes der Landesregierung sowie die in § 5 Abs. 2 BHKG normierte Verortung des Krisenstabes der Landesregierung bei dem für Inneres zuständigen Ministerium sollten dahingehend überprüft werden, dass eine ressortübergreifende Akzeptanz dieses Führungsinstrumentes nicht in Frage gestellt wird. Spätestens beim Einsatz von Einheiten, die einen landesweiten Koordinierungsbedarf mit sich bringen, ist daneben die Installation einer Einsatzleitung auf Landesebene unabdingbar. Diese Einsatzleitung ist analog zu den Regelungen in Kreisen und kreisfreien Städten unabhängig vom Krisenstab der Landesregierung zu unterhalten. Wünschenswert ist die gleichberechtigte Zusammenarbeit beider Einrichtungen unter der Gesamtverantwortung des Ministerpräsidenten.
Einheitliche Leitstellen- und Stabssoftware landesweit
Ferner schlagen die drei Herausgeber vor, im Lagezentrum der Landesregierung eine lagebeurteilende und zugleich die Landesregierung beratende Stelle einzurichten, die rund um die Uhr zusätzlich mit einsatzerfahrenen Beamten des feuerwehrtechnischen Dienstes besetzt werden soll. Die Einsatzlage Hochwasser 2021 hat verdeutlicht, dass ein Kernproblem des Katastrophenschutzes in einem nicht in ausreichendem Maße vorhandenen Lagebild auf Landesebene liegt. Mit dem Projekt ViDaL zur Schaffung einer Schnittstelle für die Vernetzung vorhandener Leitstellen-Informationen auf Ebene der Leitstellen der Kreise und kreisfreien Städte soll zukünftig eine deutliche Verbesserung dieses Defizites auf den Weg gebracht werden; dies ist sinnvoll, jedoch nur eine Teillösung. Zur bestmöglichen Optimierung der Vernetzung des Lagebildes und der Informationslage zwischen Kreisen, kreisfreien Städten, Bezirksregierungen und Landesregierung schlagen die Feuerwehrverbände dringend vor, eine landeseinheitliche Leitstellen- und Stabssoftwarelösung seitens des Landes unter vernetzter Anbindung der Kreise, Städte und Gemeinden vorzuhalten. Damit könnten zugleich bisher analog erfolgende Prozesse gemäß Meldeerlass automatisiert und vereinheitlicht werden. Ebenso würden alle beteiligen Ebenen von einem jederzeit und sofort verfügbaren landesweiten Lagebild profitieren.
Die Arbeit der Dezernate 22 der Bezirksregierungen hat sich in der Hochwasserlage 2021 als personell in extremer Weise unterbesetzt erwiesen. In dem Expertenpapier heißt es: „Wir regen an, lagebedingt die personellen Ressourcen der Bezirksregierungen in einem MoFüSt-ähnlichen und zu beübenden System, um von kommunaler Ebene entsandte einsatzerfahrene Führungskräfte zu ergänzen. Zudem ist es in der Lagebewältigung unerlässlich, dass auch die Bezirksregierungen frühzeitig räumlich in einer Stabstruktur zusammenkommen.“
Zeitgemäße Lageerkundung durch VOST-Teams
Der Einsatz von Virtual Operation Support Teams (VOST) ist in Katastrophenlagen unerlässlich. Es sollten perspektivisch mehrere unabhängig voneinander arbeitsfähige VOST in Nordrhein-Westfalen etabliert werden, zum Beispiel auf Ebene der Regierungsbezirke. Beim Aufbau solcher VOST kann auf die Expertise bestehender VOST-Einheiten zurückgegriffen werden (z. B. THW Bund, Land Baden-Württemberg). VOST erkunden die „Internet- Lage“ in Chats und sozialen Medien mithilfe spezieller Software und beurteilen, ob diese für die Einsatzleitungen und Krisenstäbe relevante Informationen enthält. Meist ist die VOST-Lage sehr aktuell und zeigt frühzeitig Nachsteuerungsbedarfe auf.
Die Landeskonzepte des Katastrophenschutzes, die sich nachhaltig und auch in der Hochwasserlage 2021 grundsätzlich bewährt haben, bedürfen des weiteren Ausbaus hinsichtlich spezieller Fähigkeiten (z. B. PSU / PSNV, IuK, Logistik). Darüber hinaus hat die Hochwasserlage 2021 es zudem erstmalig seit Bestehen der Landeskonzepte erforderlich gemacht, sämtliche Bereitschaften der vorgeplanten überörtlichen Hilfe im Landesinnern zu aktivieren. Obwohl dies zuvor unvorstellbar erschien, reichten diese Ressourcen in der „heißen Einsatzphase“ jedoch nicht aus. Weil in vielen Kreisen und kreisfreien Städten eine über die bisher vorhandenen Bereitschaften der vorgeplanten überörtlichen Hilfe hinausgehende Leistungsfähigkeit gegeben ist, wird vorgeschlagen, die Zahl der vorgeplanten Bereitschaften zu erhöhen. Dies ist zum Beispiel möglich, indem in jedem Kreis und vielen kreisfreien Städten zusätzliche Bereitschaften gebildet werden.
Die Benelux-Zusammenarbeit in der Gefahrenabwehr sollte ausgebaut und vor allem operativ weiter vereinfacht werden. Die Einbindung technischer Ressourcen aus Belgien und den Niederlanden (z. B. Hochleistungspumpen, weitere Hubschrauber) sollte auch in einem frühen Einsatzstadium ohne bürokratische Hürden oder ministerielle Genehmigungsvorbehalte möglich sein. Kostenregelungen sollten klar vereinbart und bekannt sein.
Verpflichtende Einrichtung von Stäben in allen Städten und Gemeinden
Um die Gefahrenabwehrstrukturen in den Kreisen weiter zu stärken, wird vorgeschlagen, die Einrichtung von Stäben für außergewöhnliche Ereignisse (SAE) in allen kreisangehörigen Städten und Gemeinden verpflichtend vorzusehen. Die Einrichtung von SAE wie bisher den Gemeinden nur als Option zu erlauben, reicht aus Sicht der Praktiker in der Gefahrenabwehr nicht aus. Bereits in der Pandemielage sind vielerorts SAE einberufen worden, arbeiten aber von der Zusammensetzung her eher situativ.
Aufbau, Zusammensetzung und das Verständnis als besondere Aufbauorganisation (BAO) einer Verwaltung zu agieren muss analog zum Krisenstabserlass verbindlich geregelt werden. Hierbei kann eine einfache Regelung wie die Umbenennung in Krisenstab der Stadt XY hilfreich sein. Die zusätzliche Bezeichnung „Stab für außergewöhnliche Ereignisse“ impliziert eine Abstufung, die faktisch nicht vorhanden sein darf. Dann würde der Erlass für das Krisenmanagement durch Krisenstäbe im Land Nordrhein-Westfalen durchgängig vom kreisangehörigen Raum bis zum Krisenstab des Landes eine kontinuierliche, aufeinander aufbauende und einheitliche Regelung abbilden können.
Bedarfsplanung auch für den Katastrophenschutz
Die in den §§ 3 Abs. 7, 4 Abs. 2 BHKG normierten Zuständigkeiten der Kreise und kreisfreien Städte als Untere Katastrophenschutzbehörden haben sich bewährt. Nur dort sind umfangreiche Kenntnisse und Erfahrungen hinsichtlich örtlicher Gefahrenschwerpunkte, struktureller Besonderheiten, Ausstattungen und Kompetenzen der im Katastrophenschutz beteiligten Akteure vorhanden. Es besteht jedoch die Notwendigkeit, die Belange des Katastrophenschutzes aus der derzeitigen öffentlichen Unsichtbarkeit reinen Verwaltungshandelns zu befreien und in ein flächendeckendes Bewusstsein sowohl der Öffentlichkeit als auch der in der Kommunalpolitik handelnden Verantwortlichen zu befördern.
Nachdem sich seit 1998 gezeigt hat, dass das Instrument der Bedarfsplanung im Brandschutz zur Schaffung genau dieses öffentlichen Bewusstseins geeignet ist, ist es sinnvoll, Bedarfsplanung auch für den Katastrophenschutz in Kreisen und kreisfreien Städten – in Kreisen unter Berücksichtigung der gemeindlichen Brandschutzbedarfspläne – verbindlich einzuführen.
Fazit
Die Feuerwehrverbände in Nordrhein-Westfalen haben ein hochaktuelles Aufgabenheft vorgelegt, welches die nötigen Handlungsbedarfe bei der Weiterentwicklung des Katastrophenschutzes aufzeigt. Besondere neue Weichenstellungen werden für die koordinierende Tätigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen vorgeschlagen, so u. a. eine Kompetenz-Zentrale des Landes und feuerwehrtechnische Expertise rund um die Uhr beim Personal des Lagezentrums im Ministerium des Innern. Wer mehr Details nachlesen möchte, kann sich das komplette Strategiepapier herunterladen:
Das Strategiepapier zum Katastrophenschutz beinhaltet zahlreiche weitere Vorschläge und Details zur Zukunft des Katastrophenschutzes in Nordrhein-Westfalen. Es steht im Internet zur Verfügung unter https://vdf.nrw/kats
Zusammenfassung der wichtigsten Vorschläge
- Einführung wiederkehrender Katastrophenschutzbedarfsplanungen in Land, Kreisen und kreisfreien Städten als zentrales Steuerungselement für einen modernen zukunftsfähigen Katastrophenschutz
- Schaffung einer Kompetenz-Zentrale Katastrophenschutz beim Land
- Bedarfsweise Bildung einer Landeseinsatzleitung, unabhängig vom Krisenstab der Landesregierung
- Vernetzung zahlreicher Behörden, ressortunabhängige Bereitstellung von relevanten Informationen, aufbereitet für Entscheidungsträger in Krisenstäben und Einsatzleitungen
- Landesbeschaffung einheitlicher Stabs- und Leitstellensoftware für eine optimale Vernetzung aller Ebenen
- Erweiterung der Möglichkeiten zur Warnung der Bevölkerung (sog. Warnmix) um Cell Broadcast und weitere Elemente
- Qualitativer und quantitativer Ausbau der Landeskonzepte im Katastrophenschutz und
Bildung weiterer Bereitschaften - Verbindliche Bildung von Stäben für außergewöhnliche Ereignisse (SAE) in allen kreisangehörigen Städten und Gemeinden
- Verbindliche Einführung regelmäßiger Übungen aller Akteure im Katastrophenschutz
- Erweiterung der technischen Ausstattung für den Katastrophenschutz
- Landesweit koordinierte lagebezogene Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Flächenlagen sowie Bildung mehrerer Virtual Operation Support Teams (VOST)
- Stärkung der Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung und der Einbindung von Spontanhelfern durch Bund, Land und Kommunen
Dipl.-Ing. Rolf-Erich Rehm,
Abteilungsleiter Bevölkerungsschutz und Kreisbrandmeister, Ennepe-Ruhr-Kreis
Vorsitzender des Fachausschusses Zivil- und Katastrophenschutz des VdF NRW
Christoph Schöneborn, LL.M.,
Landesgeschäftsführer, Verband der Feuerwehren in NRW