Die Provinzial ist eine Versicherungsgruppe mit ganz besonderem Geschäftsmodell: Als Wirtschaftsunternehmen ist sie auf Rentabilität ausgerichtet – zugleich arbeitet sie gemäß ihrem öffentlichen Auftrag gemeinwohlorientiert. Dazu gehört eine Risikoabsicherung auch in schwierigen Marktlagen und bei wenig bis gar nicht profitablen Risiken. Zu diesen nicht profitablen Risiken zählt auch die Wohngebäudeversicherung mit einer kombinierten Schaden- Kosten-Quote von häufig über 100 % (Grafik 1).
Die Provinzial geht als Marktführer in der Wohngebäudeversicherung in ihren Geschäftsgebieten (Grafik 2) bei der Ermittlung des Risikos innovative Wege. So ermittelt sie die Kubatur der zu versichernden Gebäude nicht anhand von Begehungen oder Vorversicherern beziehungsweise Kundeninformationen, sondern anhand deutschlandweit verfügbarer Gebäudemodelle und leitet aus diesen Daten die zur Ermittlung der Versicherungssumme notwendigen Informationen ab.
Hierbei wird die komplette Datenaufbereitung und -veredelung durch die Provinzial durchgeführt, sodass das Datenmodell permanent erweitert und für neue Anwendungen nutzbar gemacht werden kann.
Beschreibung der Gebäudemodelle
Gebäudemodelle bilden Gebäude und Bauwerke in verschiedenen Detaillierungsgraden ab. In Deutschland können diese Gebäudemodelle in den Detailstufen LoD1 und LoD2 bezogen werden. Während die LoD1-Daten das Gebäude als einfaches Klötzchen repräsentieren, werden die Gebäude in der Detailstufe LoD2 mit standardisierten Dachformen modelliert (Grafik 3).
Die Ableitung der LoD2-Daten erfolgt über flugzeuggesteuertes Laserscanning, das Digitale Geländemodell mit 1 m Auflösung (DGM 1) sowie den Gebäudegrundrissen aus dem Liegenschaftskataster (ALKIS) und dem Amtlichen Topographisch-Kartographischen Informationssystem (ATKIS).
Während der Grundriss direkt übernommen wird, wird die Dachform aus den Punktwolken der Laserscandaten (Bild 1) abgeleitet. Hierbei wird überprüft, auf welcher Standarddachform die meisten Messpunkte aus der Punktwolke liegen.
Aufgrund der Erhebung der Daten auf Basis von Befliegungen umfassen die LoD2-Daten (wie auch die LoD1- Daten) nur den oberirdischen Teil des Gebäudes – ein eventueller Keller oder eine Tiefgarage müssen noch manuell ergänzt werden.
Neben der Geometrie sowie der Dachform enthalten die Gebäudemodelle unter anderem noch Informationen zur Gebäudenutzung und zu den Datenquellen, beispielsweise zur verwendeten Quelle für die Bodenhöhe. Diese helfen dabei, die Qualität der gelieferten Daten zu ermitteln und gegebenenfalls Gebäude herauszufiltern, damit die Daten dem späteren Nutzer gar nicht erst zur Verfügung gestellt werden brauchen.
Die Lieferung der LoD2-Daten erfolgt im Format CityGML und umfasst neben dem Gebäude noch die Wand-, Dach- und Bodenflächen (Grafik 4), sodass neben den bereits gelieferten Attributen noch weitere Informationen über das Gebäude abgeleitet werden können. Diese umfassen unter anderem das Volumen, verschiedene Höhen sowie die Grundfläche.
Der deutschlandweite LoD2-Datensatz umfasst mehr als 55 Millionen Gebäude und wird jährlich aktualisiert, sodass auch neue und geänderte Gebäude ermittelt werden können sowie eine Historie aufgebaut werden kann.
Die Qualität der LoD2-Daten sowie der Datenaufbereitung wurde vor der Verwendung in Anwendungen der Provinzial mit vor Ort durch Sachverständige eingemessenen Gebäuden über einen Vergleich der ermittelten Kubatur verifiziert. Das Ergebnis dieses Vergleichs ist, dass die über die LoD2-Daten abgeleitete Kubatur im Mittel nur 2 % von der vor Ort durch Sachverständige ermittelten Kubatur abweicht (Grafik 5). Durch diese gute Übereinstimmung der ermittelten Volumenwerte wurde entschieden, dass die LoD2-Daten für den Angebots- und Antragsprozess geeignet sind und somit vor allem für die Vertriebspartner als Unterstützung in der Gebäudemaßermittlung zur Verfügung gestellt werden können.
Anreicherung der Gebäudedaten mit weiteren Geodaten
Für ein umfassendes Bild des zu versichernden Gebäudes werden die LoD2- Daten im Rahmen des Datenaufbereitungsprozesses noch mit weiteren georeferenzierten Daten angereichert. Diese Daten sind nachstehend aufgeführt:
FLURSTÜCKE
Durch die Verwendung der Flurstücke können dem Hauptgebäude in etwa der Hälfte der 16 Bundesländer (u. a. Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern) Nebengebäude – beispielsweise Garagen und Carports – zugeordnet werden.
GEWERBEBETRIEBE
Durch bundesweit vorhandene Gewerbebetriebe wird die in den LoD2- Daten ausgewiesene Gebäudenutzung korrigiert. Darüber hinaus werden die in einem Gebäude ansässigen Gewerbebetriebe inklusive der Branche aufgeführt und hierdurch für den Vertriebspartner eine weitere Möglichkeit zur Gesprächsvorbereitung geschaffen.
RISIKOINFORMATIONEN
An die Hauptgebäude (Gebäude mit Adressinformationen) sind die Hochwasser- und Starkregengefahrenklassen sowie eigene Tarifzonen angespielt und können somit ohne einen Absprung in andere Systeme für jede Adresse ermittelt werden.
Einen Sonderfall der angereicherten Geodaten stellen die Orthophotos dar. Während die eingangs genannten Daten vollständig geliefert oder heruntergeladen und anschließend über eine räumliche Verschneidung mit den LoD2-Daten kombiniert werden, werden die Orthophotos während der Verwendung der Daten über eine Schnittstelle – einen sogenannten WebMapService (WMS) – bezogen. Hierfür wird das Gebäude anhand des Grundrisses aus den aktuellen Orthophotos ausgeschnitten. Über dieses ausgeschnittene Orthophoto wird anhand verschiedener Modelle – im Wesentlichen „Convolutional Neural Networks“ – unter anderem abgeleitet, ob eine Photovoltaikanlage auf dem Dach installiert oder das Dachgeschoss zu Wohnzwecken ausgebaut ist. Die Modelle haben jeweils eine Genauigkeit von über 90 %, sodass die abgeleiteten Informationen sehr gut für eine Vorbelegung in der Kartenanwendung oder im Tarifrechner herangezogen werden können (Bild 2). Wie die Aufbereitung der Gebäudedaten erfolgt auch das Training und der Betrieb der Modelle durch Mitarbeiter der Provinzial. Hierüber sind eine kontinuierliche Weiterentwicklung, kurze Reaktionszeiten auf Änderungen der Schnittstelle des Zulieferers sowie ein stabiler Betrieb sichergestellt.
Verwendung der LoD2-Daten in der Provinzial
Die Gebäudemodelle werden bei der Provinzial als kartenbasierte Anwendung – das Provinzial Gebäudeinformationssystem – sowie einer Schnittstelle, z. B. für die Integration in den Tarifrechner, zur Verfügung gestellt. Die Kartenanwendung (Bild 3) kann sowohl Stand-alone als auch über einen Absprung aus einen Tarifrechner verwendet werden.
Bei dem Absprung aus einem Tarifrechner – aktuell aus dem Wohngebäude- und Gewerberechner – erfolgt der Absprung inklusive der Adresse des Objekts, sodass der Anwender direkt auf dem Gebäude landet und durch Anklicken des Gebäudes sofort mit der Bearbeitung starten kann. Nach der Aufnahme der zu ergänzenden Gebäudedaten – beispielsweise des Kellers oder der Gebäudefunktion – kann der Nutzer die Gebäudeinformationen direkt an den Tarifrechner übertragen lassen – eine fehlerhafte Übernahme der Daten ist somit ausgeschlossen.
Neben der Kartenanwendung werden die Gebäudedaten anhand der geocodierten Adresse auch direkt an einen Tarifrechner – VGV-Easy – übertragen. Für den Anwender reduziert sich der Angebots- und Antragsprozess somit nur auf wenige Angaben zum Gebäude (u. a. das Baujahr). Somit kann ein Beitrag für geeignete Gebäude (z. B. Gebäude ohne Schwimmbad) sehr schnell ermittelt werden.
Vorteile für Kunden, Vertriebspartner und Provinzial
In den bisherigen Abschnitten wurden die Vorteile für den Kunden als auch den beteiligten Vertriebspartner sowie für die Provinzial durch die Verwendung der LoD2-Daten bereits angedeutet. Diese Vorteile sollen im nachstehenden Abschnitt noch einmal zusammengefasst werden:
VORTEILE FÜR DEN KUNDEN
• Durch die Verwendung der Gebäudemodelle hat der Kunde kein Risiko, dass
er aufgrund fehlerhafter Angaben im Angebotsprozess im Schadenfall einen
Teil der Schadensumme selbst tragen muss.
• Durch die vollständige Integration der Gebäudedaten in den Angebots- und
Antragsprozess kann ein Beitrag – auch bei vielen komplexen Gebäuden
ohne Begehung oder externe Sachverständige – sehr schnell und mit wenig
Informationen durch den Kunden ermittelt werden. Somit reduziert sich die
Wartezeit für den Kunden, bis der Versicherungsbeitrag ermittelt worden ist.
VORTEILE FÜR DEN VERMITTLER
• Der Vermittler kann sich auf ein Kundengespräch sehr gut vorbereiten und eventuell vorliegende Informationen eines Vorversicherers oder Mitbewerbers schnell validieren und bereits einen ersten Beitrag ermitteln. Dieser Beitrag muss im Kundengespräch nur noch durch wenige zusätzliche Informationen verfeinert werden.
• Durch die vorliegenden Gebäudeinformationen entfällt der zeitaufwendige und fehleranfällige Prozess der Vermessung des Gebäudes. Hierdurch steht dem Vermittler mehr Zeit für seine Kernaufgaben zur Verfügung – die Beratung des Kunden bezüglich seiner Risiken.
• Die Provinzial gewährt bei korrekter Verwendung der entsprechenden Anwendungen den Unterversicherungsverzicht. Hierdurch reduzieren sich die Haftungsrisiken für den Vermittler durch fehlerhafte Berechnung des umbauten Raums und der daraus resultierenden Versicherungssumme deutlich.
VORTEILE FÜR DIE PROVINZIAL
• Die Provinzial wird vom Kunden durch den schlanken und durch externe Gebäudedaten unterstützten Angebotsprozess als innovativer Versicherer wahrgenommen.
• Die Provinzial harmonisiert und verbessert die eigene Datenbasis durch Verwendung der hochqualitativen Gebäudemodelle. Hierdurch können alle Folgeprozesse – von der Kalkulation bis zum Rückversicherungsschutz – profitieren.
• Durch die Kenntnis der Geometrie aller Gebäude können weitere Attribute abgeleitet und hierüber Leads generiert werden. So können beispielsweise alle Gebäude ermittelt werden, die ein Dach mit ausreichender Größe und passender Ausrichtung besitzen und auf denen noch keine Photovoltaik- Anlage installiert ist.
Zahlen zur Verwendung der Gebäudedaten
Die über die verschiedenen Zugangswege – Kartenanwendung und Schnittstelle – abgefragten Gebäudedaten haben sich seit der Bereitstellung im Jahr 2019 stark erhöht. So wurden im Jahr 2019 täglich Informationen zu etwa 500 Gebäuden abgefragt. Durch die stärkere Integration in den Angebots- und Antragsprozess durch die Verwendung der Gebäudedaten in mittlerweile drei Tarifrechnern hat sich diese Zahl von über 1.500 täglichen Abfragen auf mittlerweile bis zu 7.000 täglichen Abfragen gesteigert.
Diese Zahlen zeigen die Akzeptanz der Gebäudedaten, die sich durch den einfachen Bezug der Daten durch Integration in bekannte Systeme – vor allem Tarifrechner – sowie der hohen Datenqualität ergibt.
Vermarktung an andere öffentliche Versicherer
Durch die erfolgreiche Verwendung der Gebäudedaten im Antrags- und Angebotsprozess bei der Provinzial wurden die beiden entwickelten Produkte – die Datenschnittstelle zur Integration in Tarifrechner sowie die Kartenanwendung – über die Innovations- und Digitalisierungsfabrik (idf) angeboten. Die idf ist eine Tochtergesellschaft der drei großen öffentlichen Versicherer (dies sind neben der Provinzial noch die Versicherungskammer Bayern sowie die Sparkassenversicherung Stuttgart) und zur Hebung der Synergieeffekte innerhalb der öffentlichen Versicherer gegründet worden. Die idf hat sowohl die Datenschnittstelle als auch die Kartenanwendung abgenommen, sodass beide Produkte durch öffentliche Versicherer lizenziert und in eigene Prozesse integriert werden können.
Weitere Möglichkeiten der Verwendung
Die LoD2-Daten ermöglichen zahlreiche Anwendungen in weiteren Unternehmensbereichen. Hiervon sollen zwei mögliche Use Cases skizziert werden:
NATURGEFAHRENMODELLIERUNG
Die genaue Kenntnis der Gebäudeform sowie der -ausrichtung sind entscheidende Informationen bei der Modellierung von Sturmrisiken. So unterscheidet sich das Risiko eines Gebäudes mit einer Dachneigung von 30° von einem ansonsten identischen Gebäude mit einer Dachneigung von 40°. Darüber hinaus kann auch die Ausrichtung – beispielsweise Nord-Süd oder Ost-West – das Sturmrisiko maßgeblich beeinflussen. Auch für die Bewertung des Starkregen- und Hochwasserrisikos kann die Risikobewertung durch die LoD2-Daten verbessert werden. Neben der Möglichkeit, an jedes Gebäude entsprechende Risikoinformationen anspielen zu können, kann auch das Verhältnis von Grundfläche zu Höhe eine wichtige Information zur Einschätzung des Risikos sein. So stellt ein Gebäude mit einer Grundfläche von 100 m2 ein höheres Risiko dar als ein von der Kubatur identisches Gebäude mit einer Grundfläche von 50 m2.
GENERIERUNG VON VERTRIEBSANLÄSSEN
Die genaue Kenntnis der Gebäudegeometrie in Kombination mit der Verwendung der Orthophotos erlaubt eine genaue Ermittlung der Gebäude, die sich aufgrund der Ausrichtung und der Dachfläche für die Installation einer PV-Anlage eignen und noch keine Anlage auf dem Dach installiert haben. Darüber hinaus kann durch die jährliche Lieferung der Daten ermittelt werden, welche Gebäude neu hinzugekommen oder durch einen Anbau erweitert worden sind. Diese Gebäude können anschließend für eine Neuordnung herangezogen werden und somit dem Vertriebspartner eine passgenaue Liste mit entsprechenden Vertriebsanlässen zur Verfügung gestellt werden.
Fazit
Die Verwendung der Gebäudemodelle bietet sowohl für Kunden, Vertriebspartner und auch die Provinzial zahlreiche Vorteile: So können beispielsweise der Angebotsprozess verschlankt und bislang vorhandene Fehlerquellen vermieden werden. Dies führt neben der Datenqualität zu einer hohen Akzeptanz. Aufgrund der Möglichkeit, durch Anreicherung mit weiteren georeferenzierten Daten weitere Use Cases zu entwickeln, wird sich die Nutzung der Gebäudedaten in den kommenden Jahren vermutlich noch erhöhen.