Lastenradfahren boomt. Ob in der Stadt oder auf dem Land, immer mehr Familien nutzen das Fahrrad mit Transportbox. Durch Modelle mit Elektroantrieb ist das Lastenrad – dann als Pedelec – auch bei Menschen, die in bergigen Regionen wohnen, eine beliebte und nachhaltige Alternative zum Auto. Lieferdienste schätzen zudem das Lastenrad als schnelles Fortbewegungsmittel mit attraktivem Ladevolumen für die Zustellung in Innenstädten. Doch Lastenradfahren will auch geübt sein, und das Beachten von Sicherheitstipps hilft, Unfälle zu vermeiden. Gemeinsam haben die Partner Landesverkehrswacht NRW, Provinzial Versicherung und DEKRA unter dem Motto „Sicher starten mit dem Lastenrad“ eine Kampagne gestartet.
Viele Fragen – viele Antworten
Zielgruppe dieser Kampagne sind Personen, die sich gerade erst ein Lastenrad angeschafft haben bzw. überlegen, eines zu kaufen. Wer darf wen ab welchem Alter transportieren und worauf ist dabei zu achten? Was kann ich überhaupt laden? Wie übe ich am besten den sicheren Umgang, bevor ich mich in den Straßenverkehr begebe? Wo darf ich fahren und parken? Und wie erhöhe ich meine Sicherheit und Sichtbarkeit? Diese und noch mehr Fragen werden kurz und knapp beantwortet auf einer speziell eingerichteten Landingpage, einem Flyer sowie in zahlreichen Posts auf den Social-Media-Kanälen. Zudem wird das Thema auf Aktionstagen der lokalen Verkehrswachten im Land kommuniziert.
Bremstest mit klarer Botschaft
Um die Kampagne möglichst breit zu streuen, luden die Partner zu einer Pressekonferenz auf den Verkehrsübungsplatz in Essen ein. Techniker der DEKRA hatten einen Brems- sowie einen Crashtest vorbereitet. Unter großer Medienresonanz startete der Termin mit einem Bremstest eines nicht elektrisch unterstützten einspurigen Lastenrads. Die Box war für den Transport von Kindern ausgelegt. Dort saß ein etwa 25 Kilo schwerer Kinder- Dummy (Bild 2). Bei einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/h bremste der Fahrer ab, das Kind flog kopfüber aus der Box und knallte mit dem aufsitzenden Helm zuerst auf die Straße. Bei der zweiten Fahrt wurde der Dummy angeschnallt. Bei etwa gleicher Geschwindigkeit bremste der Fahrer ab, der Dummy blieb sitzen. Diese Message kam an: Kinder sollten immer nur angeschnallt fahren und aus Sicherheitsgründen immer einen Helm tragen.
Kollision mit einem Auto
Der zweite Versuch zeigte, was passiert, wenn ein Auto mit einem Lastenrad kollidiert (Bild 1). In diesem Fall waren in der Box des Lastenrades anstelle eines Kinder-Dummys zwei Wasserkästen verstaut. Der automatisiert fahrende Pkw fuhr mit einer typischen Stadtgeschwindigkeit von 52 km/h, als er unter lautem Knall mit einem auf der Fahrbahn präpariert stehenden Lastenrad kollidierte – also eine Situation, wie sie im Stadtverkehr durchaus vorkommen kann. Denn die Länge des Rads und die i. d. R. vorgelagerte Transportbox erschweren den Blick des Lastenradfahrers in bestimmten Verkehrssituationen.
Der Versuchsaufbau zeigte:
Die Beschädigungen am rechten Kotflügel des Pkw fielen gering aus. Das Lastenrad hingegen wurde etwa 20 Meter weggeschleudert. Auf dem Weg verstreut lagen die Wasserkästen inklusive Flaschen weitflächig. Der Dummy, der als Fahrer diente, lag mit verdrehten Extremitäten auf der Straße (Bild 3). Jeder Beobachter dachte: Gut, dass hier kein echter Mensch auf der Straße liegt und dass in der Transportbox nur Wasserkästen waren.
Fazit
Ob ein- oder zweispurig, ob mit Kindern, Erwachsenen oder tierischer Ladung: Lastenrad-Nutzer sind eine neue und wichtige Zielgruppe in der Verkehrssicherheitsarbeit. Insbesondere in Zeiten der Verkehrswende und von Diskussionen zur Neudefinition der Nahmobilität. Neben Sicherheitsaspekten wie dem Tragen eines Helms und das Anschnallen von Kindern gilt es, die Eigenverantwortung in der fahrtechnischen Beherrschung von Lastenrädern zu übernehmen. Wer – vor allem mit Kindern – losfährt, sollte an der eigenen Performance arbeiten und sicheres sowie vorausschauendes Fahren zuvor üben.
Weitere Infos unter lvwnrw.de/lastenrad
Drei Fragen an Ludger Bolke
Niederlassungsleiter der DEKRA Münster
Herr Bolke, bei dem Bremsversuch mit dem Lastenfahrrad und dem in der Transportbox befindlichen Kinder-Dummy war erkennbar, dass der Dummy aus der Transportbox herausfallen und sogar auf den Kopf fallen konnte. Haben Sie damit gerechnet?
Der Grund für die Versuchsanordnung liegt in einer Bachelor-Arbeit über das Nass- und Trockenbremsverhalten von Lastenrädern. Im Rahmen dieser Bachelor-Arbeit, die durch unseren Mitarbeiter David Kwarteng angefertigt und durch unseren Fachabteilungsleiter Dipl.-Ing. Markus Eggenhaus betreut wurde, stellte sich heraus, dass mit den Lastenrädern im leeren als auch im beladenen Zustand durchschnittlich Vollbremsverzögerungen von 6 bis 7,5 m/s2 erreicht werden konnten. Dies wiederum zeigt, dass die Bremsen bzw. das Bremsverhalten der Lastenräder deutlich oberhalb von normalen Fahrrädern auf einem Niveau von etwa Kraftfahrzeugen liegt.
Dies war eine wesentliche Erkenntnis aus der Bachelor-Arbeit. Aufgrund dieser hohen erreichbaren Verzögerungen mit Lastenfahrrädern kann es im Rahmen einer Vollbremsung bei nicht gesicherter Ladung oder nicht ordnungsgemäß angegurteten Personen zu einer Relativbewegung zwischen der Ladung bzw. den Personen und dem Boden der Transportbox kommen. Schlimmstenfalls kann die Ladung oder der Insasse herausgeschleudert werden, wobei sich dieser schwer verletzen würde.
Bei dem zweiten Crashversuch haben Sie eine Anstoßsituation zwischen dem Pkw und dem Fahrrad mit einem Anstoßwinkel von etwa 90° gewählt. Warum gerade dieser Anstoßwinkel?
Bei den Lastenfahrrädern handelt es sich um ein „neues“ bzw. stark aufstrebendes Verkehrsmittel. Im Rahmen der Verkehrswende und der neuen Mobilität nimmt die Diversität der Verkehrsmittel weiter zu. Viele der Verkehrsmittel haben ihre Besonderheiten bzw. Vor- und Nachteile. Das von uns gecrashte Lastenrad vom Typ „Long John“ hat für den Transport von Ladung und von Insassen viele Vorteile, aber auch einen Nachteil, und zwar, dass der Fahrer, bezogen auf das Rad, sehr weit hinten sitzt.
Beim Überqueren von Straßen, insbesondere in Bereichen, an denen Fahrzeuge geparkt sind oder die Sicht durch Hecken oder ortsfeste Gegenstände deutlich eingeschränkt ist, kann es vorkommen, dass die Fahrerin bzw. der Fahrer eines solchen Fahrzeugs sich sehr weit in die Straße hineintasten muss, um Einblick über den querenden Verkehr zu erhalten. Hierdurch bedingt kann der vordere Bereich des Fahrrades schon deutlich in den Fahrbahnbereich hineinragen. Das kann zu einem Anstoß mit dem querenden Verkehr führen. Hierfür wollten wir sämtliche Verkehrsteilnehmer sensibilisieren.
Was nehmen Sie aus diesen Versuchen mit bzw. welche Botschaft lässt sich hieraus ableiten?
Zunächst einmal konnten wir feststellen, dass die von uns im Rahmen der Bachelor-Arbeit getesteten Lastenräder sowohl im leeren als auch im beladenen Zustand bei Nässe und auch bei trockener Fahrbahnoberfläche ein sehr gutes Bremsverhalten, das heißt sehr gut dimensionierte Bremsen, aufwiesen. Weiterhin zeigte sich, dass Lastenfahrräder mit teilweise sehr stabilen Transportboxen im Handel verfügbar sind. Es ist jedoch immens wichtig, dass beim Transport von Ladung oder Personen diese ordnungsgemäß entsprechend den Herstellervorschriften und den anerkannten Regeln der Technik gesichert werden.
Sämtliche Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer, das heißt auch der übrige Kraftfahrzeugverkehr, sollten sich auf ein geändertes Bewegungsverhalten, auf den Breitenbedarf und gegebenenfalls auf veränderte Sichtmöglichkeiten von Nutzerinnen und Nutzern von Lastenfahrrädern einstellen und die Fahrweise durch z. B. Vergrößerung des Seitenabstandes beim Vorbeifahren anpassen.
Das Interview führte Ralf Tornau